Studie: Pferde können menschliche Emotionen lesen 10.02.2016 / News
Pferde reagieren äußerst sensibel auf die Gefühle des Menschen – wenn man negativ gestimmt ist, hat dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch negative Auswirkungen auf das Verhalten und den Zustand des Pferdes, so die britischen Forscher. / Foto: Simone Aumair
Pferde können menschliche Emotionen anhand des Gesichtsausdrucks ablesen und interpretieren – diese bemerkenswerte Fähigkeit haben britische Forscher in einer neuen Studie wissenschaftlich nachweisen können.
Für Reiter kommt die Erkenntnis wohl wenig überraschend – denn wer sein Leben mit Pferden verbringt, macht nahezu täglich die Erfahrung, daß Pferde ganz genau fühlen, wie es uns geht und wie unsere Gemütslage gerade ist. Britische Wissenschaftler wollten diese intuitive Fähigkeit von Pferden, unsere Gefühle zu erahnen und zu interpretieren, genauer untersuchen und mit wissenschaftlichen Methoden nachweisen – und das ist ihnen nun auch tatsächlich gelungen.
Im Rahmen einer umfangreichen Studie, die soeben in der Zeitschrift „Biology Letters" erschienen ist, konnten die Forscher den Nachweis erbringen, daß Pferde anhand des menschlichen Gesichtsausdrucks unsere Emotionen nicht nur lesen und verstehen können, sondern daß sie möglicherweise auch in der Lage sind, diese Gefühle zu teilen – also die Fähigkeit zur Empathie haben. Diese Fähigkeit wurde wissenschaftlich bislang nur bei einer einzigen Spezies nachgewiesen – den Hunden.
Für ihre Untersuchung fertigten die Forscher hochwertige, großformatige Farbausdrucke an, die jeweils das Gesicht eines Menschen mit positiven bzw. negativen emotionalen Ausdrücken zeigten – einmal fröhlich lächelnd, das andere mal böse bzw. finster dreinblickend. Diese großformatigen Bilder wurden insgesamt 28 Pferden in Reitställen bzw. Einstellbetrieben in Sussex und Surrey gezeigt, und zwar von freiwilligen Helfern, die diese Fotos vorher nicht sahen – also selbst nicht wussten, was auf den Fotos zu sehen ist, um jegliche subjektive Beeinflussung durch den Helfer auszuschließen.
Bei früheren Untersuchungen fand man heraus, daß Pferde sowohl Menschen als auch andere Pferde auf Fotos wiedererkennen können – daß sie also Fotos, ähnlich wie wir Menschen, tatsächlich als ,Abbilder der Wirklichkeit' wahrnehmen und interpretieren. Beim ersten Anblick der Fotos haben dennoch einige Pferde die Bilder eingehend aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet, als ob sie versucht hätten, sozusagen den ,Rest des Menschen' zu finden.
Bemerkenswert war für die Forscher insbesondere die Reaktion auf negative, böse dreinblickende Gesichter. Die Pferde haben diese Fotos vor allem mit dem linken Auge betrachtet, was darauf zurückzuführen ist, daß die rechte Gehirnhälfte für die Verarbeitung von negativen, bedrohlichen Stimuli verantwortlich ist (Anm.: Informationen des linken Auges werden in der rechten Gehirnhälfte verarbeitet) – eine Tatsache, die für Karen McComb äußerst aufschlussreich ist: „Das gibt uns tatsächlich Einblick in die Art und Weise, wie Pferde eine Situation wahrnehmen – und zeigt sehr klar, daß sie diese Bilder als negativ wahrgenommen haben. Auch der dabei deutlich messbare Anstieg der Herzschlagrate bestätigt das. Wenn man also emotional negativ gestimmt ist, wenn man bei seinem Pferd ist, dann bleibt das nicht unbemerkt und hat mit hoher Wahrscheinlichkeit negative Auswirkungen auf das Verhalten und den Zustand des Pferdes", so McComb.
Es könnte tatsächlich so sein, daß noch viele andere Tiere den Menschen besser verstehen als wir glauben, so Amy Smith von der Universität Sussex, die gemeinsam mit Karen McComb die neue Studie leitete: Obwohl die Gesichtsstrukturen erhebliche Unterschiede aufweisen, werden doch viele Ausdrucksformen von sozial lebenden Säugetieren geteilt – Angst beispielsweise wird bei einer Vielzahl von Lebewesen durch aufgerissene Augen und weit geöffnete Nüstern ausgedrückt. Amy Smith weiter: „Sozial lebende Säugetiere könnten allgemein dazu tendieren, Gesichtsausdrücke zu interpretieren und zu verstehen, weil dies eine enorm wichtige Fähigkeit ist, um zu überleben – und diese Fähigkeit könnte in gleicher Weise dazu dienen, die Emotionen von anderen Spezies einzuschätzen, wenn das für sie von Vorteil ist."
Mitgefühl und "Theorie des Geistes" (also die Fähigkeit, mentale Zustände sich selbst oder anderen zuschreiben und damit auch das zukünftige Verhalten des anderen vorherzusagen) sind in anderen Spezies nur äußerst schwer zu beweisen, aber es sieht tatsächlich so aus, als würden Pferde enorm sensibel auf unsere Gefühle und die anderer Pferde ihrer Gruppe reagieren, das bestätigt auch Co-Autorin Leanne Proops: „Wenn z. B. ein Reiter oder Pferdehalter gestresst ist, kann dies auch zu einem erhöhten Stress-Level beim Pferd führen." Pferde sind sogar in der Lage, einen Gefährten aus ihrer Gruppe zu trösten, so Proops.
Nur eine spannende Frage bleibt vorerst noch unbeantwortet: Haben Pferde die Fähigkeit, menschliche Gesichtsausdrücke zu lesen, im Verlauf ihrer 6.000 Jahre dauernden Domestikation erworben – oder erlernen sie diese Fähigkeit gleichsam individuell im Lauf ihres persönlichen Lebens? „Bei Hunden konnte nachgewiesen werden, daß die besondere Vertrautheit mit Menschen die Fähigkeit, dessen Emotionen zu erkennen, deutlich verbessert – was eher dafür spricht, daß diese Fähigkeit, zumindest teilweise, auf persönlicher Erfahrung beruht", so Amy Smith.
Die Studie „Functionally relevant responses to human facial expressions of emotion in the domestic horse (Equus caballus)" von Amy Victoria Smith, Leanne Proops, Kate Grounds, Jennifer Wathan und Karen McComb ist in der Februar-Ausgabe 2016 der Zeitschrift ,Biology Letters' erschienen und kann in englischer Kurzfassung hier nachgelesen werden.
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Was der Gesichtsausdruck eines Pferdes alles sagt 06.08.2015 / News
Hier die „Ausgangsposition" (A) der Pferdeohren – und nachdem die Muskeln zum Ohren-Drehen und Ohren-Anlegen betätigt wurden (B). / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0131738.g015 Bild A zeigt einen „neutralen" Gesichtsausdruck – Bild B den Ausdruck, nachdem die Nüstern leicht angezogen wurden (Pfeilrichtung beachen). / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0131738.g008 Hier wird die innere Augenbraue hochgezogen – eine Ausdrucks-Einheit, die bei Pferden oftmals zu beobachten ist. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0131738.g004 Hier eine „Landkarte" des Pferdegesichts mit den wichtigsten Ausdrucks-Regionen. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0131738.g002 Hier die Gesichtsmuskulatur des Pferdes – wie sich zeigt, sind vor allem die Muskeln rund um Ohren, Lippen und Nase außerordentlich groß und komplex. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0131738.g001 Hier die 17 eigenständigen „Ausdrucks-Einheiten" des Pferdegesichts im Überblick – viele davon haben Pferde mit dem Menschen gemein. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0131738.t001
Pferde haben eine große Bandbreite an mimischen Ausdrucksmöglichkeiten, und viele davon gleichen jenen des Menschen – das konnten britische Forscher im Rahmen einer aktuellen Studie nachweisen.
„Was uns überrascht hat, war die große Zahl komplexer Gesichtsbewegungen bei Pferden – und daß viele davon jenen des Menschen sehr gleichen. Abgesehen von den Unterschieden in der Struktur und der Bemuskelung des Gesichts zwischen Menschen und Pferden konnten wir – vor allem hinsichtlich der Bewegungen von Lippen und Augen – einige sehr ähnliche Gesichtsausdrücke entdecken", so eine der Leiterinnen der Studie, Jennifer Wathan, von der Universität von Sussex. Einige Gesichtsausdrücke glichen auf frappierende Weise jenen von Menschen und Schimpansen, so die Forscher, die ihre Ergebnisse kürzlich im Journal PLOS ONE veröffentlichten.
Wie andere Säugetiere – und wie auch der Mensch – verwenden Pferde die unter dem Gesicht liegenden Muskelstrukturen, einschließlich Nüstern, Lippen und Augen, um durch ihre Mimik in unterschiedlichen sozialen Situationen zu kommunizieren und Gemütszustände auszudrücken. Wie bereits frühere Studien gezeigt haben, ist dies für Pferde ein wichtiger Mechanismus, um miteinander zu kommunizieren. „Pferde sind vor allem visuelle Tiere, ihr Sehvermögen ist sogar jenem vom Hauskatzen oder Hunden überlegen – dennoch hat man vielfach ihre mimischen Ausdrucksmöglichkeiten übersehen", so Jennifer Wathan.
Um diese Möglichkeiten in ihrer gesamten Bandbreite darstellen zu können, haben die Forscher ein spezielles Kodierungs-System entwickelt, um die einzelnen Gesichtsausdrücke auf der Basis der darunterliegenden muskulären Strukturen beschreiben zu können. Sie nannten es das ,Equine Facial Action Coding System' (EquiFACS) – frei übersetzt: equines Gesichts-Ausdrucks-System. Die Forscher analysierten umfangreiches Video-Material, das natürliches Pferde-Verhalten dokumentierte, um möglichst alle unterschiedlichen Ausdrucksweisen zu identifizieren, die Pferde mit ihrem Gesicht darstellen können. Insgesamt wurden 86 Pferde unterschiedlichen Alters und verschiedener Rassen in die Untersuchung einbezogen.
Das Gesichts-Ausdrucks-System (Facial Action Coding System = FACS) wurde ursprünglich für den Menschen entwickelt. Um es auch auf Tiere und im konkreten Fall auf Pferde anwenden zu können, mussten in einem ersten Schritt die Anatomie und die muskulären Strukturen des Pferdegesichts genau analysiert werden. Dabei zeigte sich, daß die Muskeln rund um Ohren, Lippen und Nase des Pferdes außerordentlich groß und komplex waren. Anschließend konnten sich die Forscher daran machen, die auf den Video-Aufzeichnungen dokumentierten eigenständigen Gesichtsbewegungen den zugrundeliegenden Gesichtsmuskeln zuzuordnen.
Auf diese Weise konnten sie insgesamt 17 eigenständige ,Action Units', also Ausdrucks-Einheiten bzw. Ausdrucks-Möglichkeiten, bei Pferden identifizieren. Beim Menschen sind es übrigens 27 – beim Schimpansen 13, bei Orang-Utans 16, bei kleinen Menschenaffen und bei Hunden 16 und bei Katzen – die in dieser Hinsicht dem Menschen am nächsten kommen – sind es 21. Für die Wissenschaftler war es eine interessante Entdeckung, daß Pferde mehr ,Ausdrucks-Einheiten' besitzen als die meisten anderen Tierarten, für die ein solches System bereits entwickelt wurde.
In einem letzten Schritt wurden schließlich die 17 eigenständigen Gesichtsbewegungen bzw. Ausdrucks-Einheiten detailliert beschrieben – darunter waren etwa das ,Anheben der inneren Augenbraue', das ,Schließen bzw. Blinzeln der Augen' und eine breite Palette von Lippen-, Ohren- und Nüstern-Bewegungen sowie Bewegungen des Mauls, des Kiefers und des Kinns.
Prof. Karen McComb von der Universität Essex: „Früher dachte man, daß – je weiter eine Spezies vom Menschen entfernt wäre – auch die Ausdrucksmöglichkeiten des Gesichts zusehends weniger ausgeprägt wären. Durch die Entwicklung von EquiFACS haben wir erkannt, daß Pferde mit ihrem komplexen, stets in Veränderung begriffenem Sozialsystem ebenfalls über eine enorme Bandbreite von mimischen Ausdrucksmöglichkeiten verfügen – und daß sie viele davon mit dem Menschen und anderen Tieren gemeinsam haben. Das bestärkt uns in der Annahme, daß nicht nur evolutionärer Druck, sondern auch soziale Faktoren einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung mimischer Ausdrucksmöglichkeiten haben."
Die Forscher weiter: „Durch jüngere Forschungsarbeiten ist deutlich geworden, daß Pferde durchaus komplexe mimische Ausdrucksweisen beherrschen – und daß bestimmte Ausdrucks-Merkmale mit Schmerz in Verbindung stehen (Anm.: siehe auch diesen Artikel dazu). Aber bis jetzt gibt es kaum Studien, die untersuchen, welche Bandbreite an Informationen Pferde durch ihre vielfältigen mimischen Ausdrucksmöglichkeiten vermitteln können. So wissen wir von keinen Forschungsarbeiten, in welchen etwa die Gesichts-Ausdrücke von Pferden im Zusammenhang mit positiven Erfahrungen oder Emotionen aufgezeigt werden – und das ist zweifellos ein wichtiger, bislang kaum verstandener Aspekt des Wohlbefindens von Pferden."
Die Forscher hoffen, mit dem von ihnen entwickelten Gesichts-Ausdrucks-System die Basis dafür gelegt zu haben, diese Forschungslücke zu schließen – denn eine systematische Aufzeichnung und Analyse von Gesichtsausdrücken kann in vielerlei Hinsicht nützlich sein, so Prof. McComb abschließend: „Mit EquiFACS können wir den Gesichtsausdruck in unterschiedlichen sozialen und emotionalen Situationen dokumentieren und so Einblick in die Art und Weise gewinnen, wie Pferde gerade ihre soziale Umgebung wahrnehmen. Das wird unser Verständnis ihres Verhaltens, ihrer Kommunikation und ihrer Psyche verbessern – und kann uns wertvolles Wissen liefern, um ihre medizinische Versorgung oder ihre Haltungsbedingungen zu optimieren."
Die Studie „EquiFACS: The Equine Facial Action Coding System" von Jen Wathan, Anne M. Burrows, Bridget M. Waller und Karen McComb ist in der August-Ausgabe des Journals PLOS ONE erschienen und kann in voller Länge hier nachgelesen werden.
07.08.2015 - Studie: Schmerzen sind ins Pferdegesicht geschrieben
Studie: Schmerzen sind ins Pferdegesicht geschrieben 07.08.2015 / Wissen
Hier Beispiele für die unterschiedlichen Ausprägungen des Merkmals ,steif rückwärtsgerichtete Ohren'. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g002 Hier unterschiedliche Formen des Merkmals ,zusammengezogene Augen' – das Augenlid ist teilweise oder sogar vollständig geschlossen. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g002 Hier die unterschiedlichen Formen des Merkmals ,angespannte obere Augen-Region' – je nach Anspannung der um die Augen liegenden Muskeln werden die darunterliegenden Knochen sichtbar. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g002 Hier die Ausformungen des Merkmals ,angespannte Kaumuskulatur' – deutlich sichtbar ist auf dem rechten Foto die verkrampfte Maulpartie. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g002 Hier das Merkmal ,angespanntes Maul und akzentuiertes Kinn' – besonders deutlich am Foto ganz rechts zu sehen, wo die Oberlippe stark zurückgezogen ist und die Unterlippe ein deutliches ,Kinn' formt. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g002 Hier die unterschiedlichen Ausprägungen des Merkmals ,angespannte Nüstern und flaches Profil'. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g002 Dieses Pferd wurde auf der ,Skala des Schmerzausdrucks' mit 1 bewertet – es ist also als weitgehend schmerzfrei zu beurteilen. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g003 Dieses Pferd wurde auf der Skala mit 8 bewertet – zeigt also deutliche Anzeichen von Schmerz. / Foto: doi:10.1371/journal.pone.0092281.g003
Eine Gruppe europäischer Wissenschaftler hat untersucht, ob und wie sich Schmerzen im Gesichtsausdruck von Pferden ablesen lassen – und dafür ein Bewertungssystem mit hoher Zuverlässigkeit entwickelt.
Jeder Pferdebesitzer wird der Behauptung zustimmen, daß sich auch am Gesichtsausdruck von Pferden ablesen läßt, ob diese Schmerzen haben oder nicht. Aber es wird den meisten schwerfallen, präzise und nachvollziehbar zu beschreiben, an welchen mimischen Details sie das nun genau erkannt haben.
Exakt dieser Aufgabe haben sich sechs Wissenschaftler aus Italien, Deutschland und Großbritannien gestellt: Sie wollten ein schlüssiges, leicht erlernbares Bewertungssystem entwickeln, das es Pferdebesitzern sowie Personen, die beruflich mit Pferden zu tun haben, ermöglicht, den ,Schmerzzustand' von Pferden möglichst genau zu bestimmen. Das Ergebnis bezeichneten sie als ,Horse Grimace Scale' – also die ,Skala des Schmerzausdrucks' bei Pferden.
„Obwohl in den letzten 20 Jahren beträchtliche Fortschritte im Verständnis der Physiologie und der Behandlung von Schmerzen bei Tieren gemacht wurden, ist das Abschätzen von Schmerzen bei vielen Standard-Prozeduren wie etwa dem Fohlenbrennen oder auch bei Kastrationen, noch immer schwierig und häufig unzureichend", so die Forscher. „Obwohl die Kastration bei Pferden längst veterinärmedizinischer Alltag ist, gibt es für die Schmerzbeurteilung nach wie vor keine etablierte, allgemein anerkannte Methode. Wie bei anderen Tierarten ist auch der Schmerz bei Pferden schwer abschätzbar, da sie mit uns Menschen nicht in einer klaren, bedeutungsvollen Sprache kommunizieren können." Wie groß und gravierend das Problem allein im Zusammenhang mit Kastrationen ist, belegen die Wissenschaftler mit bedrückenden Zahlen: „Jährlich werden in Europa schätzungsweise 240.000 Pferde kastriert – und die Kastration ist nachweislich mit einem gewissen Grad an Schmerz verbunden", so Dr. Michela Minero, eine er Studienautorinnen. „Dennoch erhalten nur 36,9 % der kastrierten Pferde Schmerzmittel nach der Operation. Eine mögliche Erklärung dafür ist eben, daß die Schmerzbeurteilung während einer Kastrations-OP noch immer unzureichend ist." Mit anderen Worten: Das Leid der Pferde bleibt unbemerkt – und deswegen auch unbehandelt.
Um diesem deprimierenden Zustand abzuhelfen, entwickelten die Wissenschaftler die erwähnte ,Skala des Schmerzausdrucks'. Im Rahmen einer Studie analysierten sie das Schmerzverhalten von insgesamt 46 Hengsten verschiedener Rassen im Alter zwischen 1 und 5 Jahren. Die Hengste wurden in zwei Behandlungsgruppen mit 19 Hengsten (Gruppe A) und 21 Hengsten (Gruppe B) sowie in eine Kontrollgruppe mit 6 Hengsten eingeteilt. Alle Hengste wurden routinemäßig kastriert.
Gruppe A erhielt unmittelbar vor der Anästhesie eine Injektion Flunixin-Meglumin, ein Entzündungshemmer mit deutlich schmerzstillender Wirkung; Gruppe B erhielt denselben Wirkstoff verabreicht – jedoch sowohl unmittelbar vor der Anästhesie als auch sechs Stunden nach der durchgeführten Operation. Die Kontrollgruppe wurde ebenfalls unter Vollnarkose operiert – erhielt jedoch kein schmerzstillendes Mittel.
Sämtliche Pferde wurden für fünf Tage in einer Pferdeklinik stationiert und sowohl am Tag vor der Kastrations-OP als auch acht Stunden nach der OP mittels HD-Videos beobachtet. Auch an allen Folgetagen wurden Videos angefertigt, aus denen schließlich hochauflösende Fotos der Pferdegesichter entnommen wurden. Anschließend wurden von jedem einzelnen Hengst die Bilder vor und acht Stunden nach der OP von einem fachkundigen Beobachter analysiert, der in der Beurteilung des Schmerzausdrucks bei anderen Tierarten speziell geschult war. Der Beobachter wußte dabei nicht, welcher Behandlungsgruppe das jeweilige Pferd angehörte.
Am Ende ergaben sich aus den umfangreichen Bewertungen insgesamt sechs ,facial actions units', also ,Gesichts-Merkmale', aus denen sich Rückschlüsse auf das Schmerzempfinden eines Pferdes ziehen lassen. Diese sind:
– steif rückwärtsgerichtete Ohren
– zusammengezogene Augen
– angespannte obere Augen-Region
– angespannte Kaumuskulatur
– angespanntes Maul und akzentuiertes Kinn
– angespannte Nüstern und flaches Profil
Jedes dieser Merkmale kann auf einer Skala von 0 bis 2 bewertet werden (0 = nicht vorhanden, 1 = leicht vorhanden, 2 = deutlich vorhanden). Insgesamt ergibt sich somit eine Maximalbewertung von 12 Punkten.
Schmerz-Verhalten war bei den beobachteten Pferden vorwiegend acht Stunden nach der Kastrations-OP festzustellen – dies scheint somit ein entscheidender Zeitpunkt für die Schmerzbeurteilung zu sein.
Auch ein Test mit fünf verschiedenen, unabhängigen Beobachtern ergab, daß die so erarbeitete Skala zuverlässige und schlüssige Resultate lieferte. Es zeigte sich auch, daß die mit Schmerz verbundenen Veränderungen im Gesichtsausdruck sehr ähnlich zu jenen waren, die bereits bei anderen Tierarten beobachtet wurden, freilich mit kleinen, subtilen Abweichungen: Wie schon in früheren Untersuchungen bewiesen werden konnte, kann sich Schmerz bei Pferden auch durch verschiedene unspezifische Indikatoren ausdrücken, etwa einer insgesamt geringeren Körperaktivität, einem gesenkten Kopf, starrem Blick, steifer Haltung und Bewegungs-Unwilligkeit. Auch in der aktuellen Studie hat sich gezeigt, daß die Pferde in den acht Stunden nach der OP zu einer deutlich tieferen Kopfhaltung neigten.
„Unsere Studienergebnisse zeigen, daß die ,Horse Grimace Scale' – also die ,Skala des Schmerzausdrucks' – eine potentiell effektive Methode ist, die Schmerzen bei einer Kastrations-OP zu beurteilen", so die Forscher abschließend. Die Genauigkeit der Skala wurde mit 73,3 % angegeben. Die Beurteilung post-operativer Schmerzen anhand der ,Skala des Schmerzausdrucks' habe gegenüber einer traditionellen Verhaltens-Analyse eine Reihe klarer Vorteile – so wäre letztere erheblich komplexer, weil man dabei eine viel größere Zahl von möglichen Verhaltensweisen berücksichtigen müsse, so die Wissenschaftler. Sie betonten aber auch, daß noch weitere Bestätigungen für die Effizienz der Skala erforderlich sind – aber die ersten Resultate stimmen zuversichtlich, daß damit ein zuverlässiges Tool verfügbar ist, um post-operative Schmerzen bei Pferden korrekt einschätzen zu können. Dr. Michael Minero: „Die standardisierte ,Skala des Schmerzausdrucks' ist auch für Laien leicht erlernbar und kann nützlich für alle jene Personen sein, die Pferde betreuen, welche in irgendeiner Weise schmerzhaften Behandlungen oder Prozeduren ausgesetzt waren."
Die Studie ,Development of the Horse Grimace Scale (HGS) as a Pain Assessment Tool in Horses Undergoing Routine Castration' von Dr. Michela Minero, Emanuela Dalla Costa, Dirk Lebelt, Diana Stucke, Elisabetta Canali und Matthew Leach ist im März 2014 im Journal PLOS ONE erschienen und kann in voller Länge hier nachgelesen werden.
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